Über Meditieren und „Meditations“

Erfahrungen bei einer Kooperation mit Sony Classical International

Eigentlich ist der gregorianische Choral einstimmiger Gesang. Von Instrumenten unbegleitet meditiert er in archaischen Tonarten Bibeltexte im Kontext der Liturgie. So hat unser Autor diese Musik als 11-Jähriger kennengelernt, so wird sie im Orden gesungen und auch auf Musikuniversitäten unterrichtet. Dachte unser Autor. Bis zu dem Moment, als das Telefon klingelte…

Als sich im Frühjahr 2021 das US-amerikanische Plattenlabel Sony Classical International sehr höflich am Telefon erkundigte, ob es überhaupt im Bereich des Möglichen wäre, gregorianischen Choral mit einem Tasteninstrument, z.B. einem Klavier, zu begleiten, war ich erst einmal zurückhaltend. Doch dann kam mir Schwester Rosa aus unserem Dominikanerkloster in Regensburg in den Sinn, die alle Stücke des Gregorianik-Repertoires auf sämtlichen Tonhöhen auf der Orgel begleiten konnte, je nachdem, in welcher stimmlichen Verfassung ihre Mitschwestern waren. Und dann fiel mir ein, dass in der Münchner Staatsbibliothek sogar seit dem Jahr 1511 Lehrtraktate für die musikalische Begleitung von Choral liegen. Ich wurde neugierig.

Choral und Harmonie

Mit Blick auf den Klavier-Part dachte Sony an EchoPreisträger Tim Allhoff. Tim kommt aus dem Jazz, hat aber eine große Liebe zur Vokalmusik von Johann Sebastian Bach. Wir verabredeten uns zu einer lockeren Jamsession „Klavier-Gregorianik“ im Musikzimmer der Theatinerkirche. Schnell wurde uns klar, dass wir uns der Aufgabe stellen wollten. Nun lag es an Tim, die Arrangements zu produzieren, und an mir, ein Ensemble für den Vokalpart zusammenzustellen.

Das war die Geburtsstunde von Cantatorium. Die Musiker dieses Spezialensembles für Gregorianischen Choral sind professionelle Sänger und von Jazz bis Oper in vielen Genres zuhause. Da sie alle Mitglieder der Vokalkapelle der Theatinerkirche (vormals königliche Hofkapelle, gegründet 1482) sind, singen sie (fast) jeden Sonntag im Hauptgottesdienst. Wir interpretieren den Gregorianischen Choral anhand der ältesten erhaltenen Handschriften, sie sind über tausend Jahre alt.

Studio, Video, Interview

Von Beginn unseres Projekts an wurden wir professionell und intensiv von Sony Classical International betreut. So wurden neben den eigentlichen mehrtägigen Tonaufnahmen in den Bavaria Filmstudios auch ein paar Monate später ein Video-Interview sowie professionelle Musikvideos in unserer Münchener Kirche produziert.

Zwischendurch stellten wir uns gelegentlich die Frage, wer denn wohl die Zielgruppe unseres crossover Projektes sei. Sony wurde nicht müde uns zu versichern, dass der globale Markt für Meditationsmusik riesig und der Bedarf groß ist.

Ein Blick hinter die Kulissen

Dass große Plattenfirmen Gregorianik für einen breiten Markt aufnehmen, ist an und für sich nichts Neues (z.B. „Chant – the Benedictine Monks of Santo Domingo de Silos“, EMI 1994; „Chant – Music for Paradise“, Universal Music 2008). Neu sind jedoch die digitalen Möglichkeiten von Marketing und Kontrolle. Zum Beispiel: Um für Schnitt und Produktion des begleitenden Musikvideos die relevanten Abschnitte der Arrangements zu identifizieren, wurden die Stücke vorab von Algorithmen einer Software abgetastet. Vor zehn Jahren ging es noch darum, CDs zu verkaufen – ob die auch jemand tatsächlich hörte, war der Plattenfirma im Grunde egal. Heute kann das Label ziemlich genau berechnen, wer was wann hört, was er dabei tut, welche Stelle besonders gerne gehört wird und wo ein Stück beim Abspielen unterbrochen wird. Sony scheint sich also begründet sicher zu sein, dass viele Menschen Gregorianik hören wollen.

Ein Klangraum der Stille

Unsere Lebenswelten werden lauter, schneller und unübersichtlicher. Die Gregorianische Musik entzieht sich diesen Mechanismen. Wie genau? Durch die Reduktion auf eine einzige, sich organisch entwickelnde melodische Linie (in unserem Fall diskret ergänzt durch harmonische Orientierungshilfen vom Klavier im Hintergrund) und ihre tonale Ferne: Das heißt, diese Musik liegt außerhalb unserer Hörgewohnheiten, umgibt uns vielmehr mit einer bisher ungehörten, lebendigen Stille und lässt sie dadurch frei. Manche werden Gregorianik vielleicht als unbestimmte, archaische Reminiszenz erleben; im Idealfall lädt sie Hörerinnen und Hörer in einen heilenden und stärkenden Klangraum ein, in dem sie innehalten, zu sich kommen und meditieren können.

Um solche Klangräume im Alltag möglichst barrierefrei zu ermöglichen, erscheint das Album „Meditations – Chant and Piano“ ausschließlich auf Streaming-Plattformen und wird dementsprechend auf digitalen Kanälen beworben. Wir machen das mit diesem Artikel erstmals anders: Achten Sie auf Ihre Playlists ab Winter 2022!

Nach Rücksprache mit meinem Konvent geht mein Honorar für dieses Projekt an unsere Mitbrüder in der Ukraine. So hoffe ich, dass „Meditation – Chant and Piano“ viele Herzen auf der ganzen Welt erreicht.

P. Dr. Robert Mehlhart ist Prior des Dominikanerkonvents in München. Er ist Kirchenmusiker an der Theatinerkirche St. Kajetan und lehrt an der Hochschule für Musik und Theater München.

Dieser Artikel ist erschienen in unserer aktuellen Ausgabe von „kontakt – Freundesausgabe der Dominikaner in Deutschland und Österreich“, unentgeltlich z.B. hier.